Dienstag, 5. November 2013

Großmutter

"Wieviel Kälte kann ein Herz ertragen?", fragt Johanna ihre geliebte Großmutter, als sie nach dem üblichen Sonntagsfestmahl gemeinsam noch eine Tasse Tee in dem Salon tranken, welcher stilvoll gefüllt war mit Wänden voller Bücher. Sie nahm sich einen großen Löffel voller Honig, und sah ihm zu, wie er sich langsam auflöste. So mochte sie es am liebsten. Es duftete vertraut nach Lavendel und den großen Wachskerzen, die langsam immer tiefer brannten. Großmutter hatte wie immer viel zu viel von dem köstlichen Essen zubereitet. Nun saß sie in dem gemütlichen, schweren Sessel auf Omas Schoß und blickte sie mit ihren großen nussbraunen Augen erwartungsvoll an. "Nun", sagte Großmutter, "ich denke ein so kleines Herz wie deines ist so voller Wunder, dass kein Hauch von Kühle in ihm lebt". Sie lächelte Johanna an und strich ihr über das lange braune Haar. "Aber siehst du nicht all die Menschen da draußen, die Tag für Tag ohne Lächeln über die Straßen gehen und denen niemals ein schönes Wort über die Lippen kommt?", hakte Johanna hartnäckig nach. "Liebes," erwiderte die Großmutter, "mit manchen Menschen auf dieser Erde hat es das Schicksal nicht so gut gemeint, sodass sie ihr Herz sorgfältig verschließen, dass nichts und niemand ihnen je wieder weh tun kann. Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch einen Grund hat, wieso er die Welt mit diesen düsteren Augen sieht. Um ihr Herz zu schützen füllen sie es mit einer eisigen Kälte und errichten dazu noch eine hohe Mauer, sodass es fast unmöglich ist, es zu erreichen. Und jeder, der an es heranzutreten versucht, wird daran abprallen." Johanna wand den Blick auf ihre Tasse und wippte mit ihren kleinen Füßen, die in dicke Wollsocken eingepackt waren, hin und her. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. "Großmutter, meinst du ich sollte auch eine Mauer um mein Herz bauen?" Für einen kurzen Moment schwieg Großmutter, sodass Johanna sie wieder anblickte. In den Augen der alten Frau spiegelten sich Wärme und Lebenserfahrung. "Ich glaube, mein Schatz, dass eine kleine Mauer immer gut ist, um das wichtigste, dass du besitzt zu schützen. Kein Mensch sollte je ungehindert an dich herantreten können um seinen Namen an die Wand deines Herzens zu schmieren. Es wäre ganz schnell voll von unbedeutenden Menschen und du hättest kaum Platz für die wirklich wichtigen Personen die dir im Laufe der Jahre begegnen. Die große Schwierigkeit jedoch ist, eine versteckte Tür in der Mauer zu hinterlassen. Groß und mächtig muss sie sein, mit einer gusseisernen Klinke, mit der sie nur schwer zu öffnen ist. Diese Tür ist das Tor zu deinem kleinen Herzen. Kein Fenster darf es geben, damit niemand hineinsehen kann. Und sollte doch jemand all die Hürden auf sich nehmen um einen Blick hinter das große Tor zu werfen, um zu erkennen, dass sich dahinter ein großer gemütlicher Saal verbirgt, an dem mächtige Gemälde hängen, gezeichnet von Erinnerungen, vollgestellt und doch stilvoll eingerichtet mit all den Sachen die dir lieb sind, so lass ihn hauchdünn seinen Namen an deine Wand zeichnen. Mit der Zeit wird er es sich dort bequem machen, wie ein Gast, der sich so zu Hause fühlt, dass er nicht wieder gehen möchte. Und umso länger du ihn dort gewähren lässt, desto öfter wird er seinen Namen nachzeichnen, bis er in dicken, großen Lettern dort verewigt ist." Johanna schmiegte sich an ihre Großmutter und verbarg ihr Gesicht in dem langen kuschligen Umhang, der so vertraut nach ihrer Oma roch. "Bleiben denn dieser Name dann für immer dort stehen?" Wieder eine kurze Pause. "Nun ja, das kommt ganz darauf an, ob die Person, die ihn gezeichnet hat, sich auch dafür entscheidet zu bleiben. Oder ob du ihn nicht irgendwann wieder bittest zu gehen. Dann verblasst mit der Zeit die Farbe an der Wand. Doch bedenke, es wird auch jemand kommen, der zielstrebig direkt durch die große Tür hindurchschreitet, dem du gestattest zu bleiben, aber der ein Messer aus der Tasche zaubert und anfängt seinen Namen in deine Wand einzuritzen." Johannas Augen weiteten sich. "Oh nein! Großmutter was passiert dann mit meinem Herzen? Großmutter, muss ich dann sterben?" Die Alte lächelte müde und strich ihr erneut durch das sanfte weiche Haar. "Aber nein. Es wird dich nicht umbringen, aber du wirst die Wunden, die er damit hinterlässt noch eine ganze Weile spüren. Entscheidend ist, wie tief die Schnitte sind. Manchmal tut es ein paar Wochen weh, immer wieder an diesen Namen erinnert zu werden. Und vielleicht ist auch jemand dabei, dessen Mal du noch viele Jahre in die tragen wirst. Manchmal sind es erträgliche Schmerzen, doch es kann dich ebenso um den Verstand bringen. Doch glaub mir Liebes, es wird nicht viele Menschen geben, die solch eine Kraft haben, solche Spuren in dir zu hinterlassen. Also hab keine Angst. Nur die ganz besonderen Menschen verursachen dieses Gefühl." Großmutter sah, wie ein Hauch von Angst in den Augen ihrer Enkelin lag. Sie wünschte sich, etwas sagen zu können, dass all ihre Weisheit widerlegen würde, doch sie wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Johanna schloss ihre Arme ganz fest um den Bauch ihrer Großmutter und legte den Kopf an ihre Brust. Und da hörte sie es. Das Herz ihrer geliebten Oma, dass so gleichmäßig und rhythmisch schlug, als könnte es nichts auf der Welt aus dem Takt bringen. "Sag mir, Großmutter, hast du jemals solch eine tiefe Narbe in deinem Herzen getragen?" Und wieder musste Großmutter lächeln. "Aber natürlich mein Kind. Der Name deines Großvaters steht noch immer in großen Buchstaben an der Innenseite meines Herzens."
"Meinst du, Opa weiß das?" Johanna drückte sich noch näher an die Brust um noch besser dem beruhigenden Takt zu lauschen. Und plötzlich - für einen kurzen, fast unmerklichen Moment setzte es für einen Schlag aus. "Ich hoffe es sehr, mein Schatz. Ich habe deinen Opa sehr geliebt. Mehr als alles andere auf der Welt. Und als er von uns ging, riss sein Name nocheinmal tief ein, sodass er auf ewig dort verewigt ist. Es ist schmerzhaft, ja. Aber es ist ein schöner Schmerz. Und ich wünsche dir von ganzem Herzen, Liebes, dass auch du eines Tages jemanden findest, der dein Herz mit seinem Namen so sehr bereichert, wie es bei mir geschah, und es nicht auf irgendeine Weise verunstaltet wird, es abkühlt, und dein wunderbares Lächeln kaum noch jemanden verzaubern kann. Dafür besitzt du ein viel zu schönes Lächeln." Großmutter schloss ihre Kleine fest in die Arme, bevor sie beschloss, dass es an der Zeit war das Flackern der Kerzen löschen. "Schlafenszeit, kleine Maus. Komm, ich bring dich hinauf in dein Bett."
"Ich hab dich lieb, Großmutter", sagte Johanna leise, "Dein Name steht jetzt schon in ganz großen Buchstaben in meinem Herzen."





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