Montag, 4. November 2013

Wundenkind

Könnte sie nur für immer hier sitzen. Hier oben, auf den Klippen und die Augen schließen. Sie strich sich ihre dunklen Locken von den Wangen - ein tiefes Braun, glänzend in der Morgensonne, dass ihr Gesicht umschloss, wie ein perfektes Gemälde, welches den passenden Rahmen gefunden hatte und es dadurch vollendete. Wie konnte er nur. Er, mit dem unschuldigen Gesicht, mit den großen haselnussbraunen Augen und dem Blick irgendwo im nirgendwo, zwischen vollendender Liebe und Todesverachtung. Die milchglasige Wand baute sich immer weiter auf, zwischen ihr und ihrer Vergangenheit. Es zu versuchen war zwecklos, das wusste sie. Doch irgendeinen Weg musste es geben. Erinnerungen können nicht auf ewig verschwunden sein. Wie hatte es nur soweit kommen können? All die Fragen, alle diese quälenden Fragen worauf sie keine Antwort wusste standen leer im Raum, nahmen den Platz in ihren Gedanken ein, hielten sie gefangen. Nichts wird wieder gut. All die Tage und Wochen im Krankenhaus. All die Ärzte mit ihren Plänen und Meinungen. Sie sagten, sie würde es nicht schaffen. Ich bin stark. Das war sie. Voller Wünsche und Träume. Und sie hatte überlebt. Das Mädchen mit den Wunden. Ein langer Schnitt, der sich über ihren linken Arm den Weg nach unten bahnte und sie niemals vergessen ließ. Vergessen, welche Schmerzen sie litt, da in den weißen Laken umringt von blendenden Wänden und dem Gefühl von Untergang. Niemals war er da. Nur in ihren Gedanken.  Sein letzter Blick voller Liebe und Hass, als er den Wagen aus der engen Kurve in den Wald schleudern ließ. Sie erinnerte sich an nichts, außer an seine blutroten Lippen und das grelle helle Licht, das ihr jetzt Kopfschmerzen bereitete.  Der Tag, an dem er sie verließ. Voller Absicht.
Der Brief, den man fand - man gab ihn ihr erst später. Sie hielt ihn in ihren zitternden Händen, geschunden vom beeinflussten Schicksal, hier auf den Klippen. Langsam öffnete sie das Siegel. So wunderschön.

Ich verlasse dich. Dich, die du mich verlassen hast.
Tiefe Trauer stieg ihr in die Augen und doch - sie vergoss keine einzige kostbare Träne.


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